Faszien: Der Schlüssel gegen Rückenschmerzen?

Trainiert die Faszien, schützt vor Schmerzen: Öfter neue Bewegungen ausprobieren

Rückenschmerzen? „Du brauchst Faszientraining“, sagte Blogger-Kollegin Annett vor ein paar Monaten zu mir. „Keine Ahnung, was das sein soll“, sagte ich. Annett wusste es. Sie zeigte sich begeistert. Ich zeigte mich skeptisch, aber interessiert. Ich kenne Faszien aus meinem Studium als Bindegewebsstränge, vorzugsweise von der Sorte „derb“. Danach habe ich das Wort nicht mehr gehört, bis plötzlich in allen möglichen Fitnessstudios die Faszien-Kurse aufpoppten. Sportliche Hypes sind nicht meine Sache. Ich hielt mich fern.

Faszien: Ungeahnte Bedeutung bei Schmerzen

Nach der Diskussion mit Annett – sie ist Biologin wie ich – wollte ich es jedoch genauer wissen. Was haben Faszien mit dem Thema Rückenschmerzen zu tun? Sind sie der Schlüssel zur Schmerzfreiheit? Ein Eindruck der in jüngster Zeit gelegentlich entsteht. Die Zeitschrift Geo beispielsweise widmete dem Bindegewebe im Februar 2015 eine Titelgeschichte und schwärmte von dessen „ungeahnter Bedeutung für Gesundheit und Wohlbefinden“ – vor allem bezogen auf chronische (das sind häufig wiederkehrende oder dauernde) Schmerzen.

Wie ist der Stand der Wissenschaft? Ich habe bei einem der international bekanntesten Forscher zu diesem Thema nachgefragt: Dr. Werner Klingler widmet sich am Bezirkskrankenhaus in Günzburg dem Erkenntnisgewinn über die Faszien und behandelt täglich Patienten, denen der Rücken seit vielen Jahren schwer zu schaffen macht.

Manchmal, sagt er, wundere er sich selbst über den Hype um „Faszien“ und „Faszientraining“, der vor allem von Fitnessstudios ausgehe. Im Gespräch mit Healthandthecity erklärt er, was jeder – egal ob sportlich  oder nicht  – selbst tun kann, um (Rücken-)Schmerzen zu vermeiden.

Hier das Interview:

Herr Klingler, Bewegungsmangel gilt als Hauptursache für Rückenschmerzen. Er bedingt lasche Muskeln, muskuläre Ungleichgewichte, Muskelverspannungen und als Folge Schmerzen – so die gängige Theorie. Jetzt häufen sich Berichte, die Faszien seien an den Schmerzen Schuld, und gezieltes Training und spezielle Faszientherapien brächten die Heilung. Was ist da dran?

Klingler: Nur ein kleiner Teil der Rückenschmerzen lässt sich auf eine einzige Ursache zurückführen – einen eingeklemmten Nerv zum Beispiel. Vor allem bei chronischen Rückenschmerzen spielen viele Faktoren eine Rolle. Darunter Fehlhaltungen, Mangel an Bewegung, Stress oder auch Übergewicht. All das wirkt sich auf die Muskeln aus – und auf die Faszien. Deshalb beinhaltet bei uns die Therapie der Dauerschmerzen auch die Arbeit an den Faszien, allerdings meist als Teil eines umfassenden Behandlungskonzepts. Nur die Faszien zu behandeln: Damit wäre den meisten unserer Patienten nicht geholfen.

Was brauchen Patienten mit schweren chronischen Rückenschmerzen wirklich?

Klingler: Die Patienten, die zu uns kommen, haben stapelweise Befunde dabei. Röntgenbilder, und, und, und. Sie leiden schon sehr lange unter Schmerzen und haben schon viele verschiedene Therapien hinter sich. Was ihnen fehlt, ist eine ganzheitliche Betrachtung, die alle in Frage kommenden Einflussfaktoren erfasst, zusammenführt, bewertet und die Behandlung entsprechend anpasst. Bei uns füllen diese Rückenschmerzpatienten lange Fragebögen aus. Neben der körperlichen Untersuchung erstellen wir ein Profil, wie es ihnen psychisch geht. Wir erfassen ihre Lebensführung und machen eine komplementärmedizinische Evaluation. So verschaffen wir uns ein Bild, das den gesamten Menschen einbezieht.

Die Beschäftigung mit den Faszien allein reicht also nicht, um Rückenschmerzen zu verstehen und zu behandeln. Aber welchen Anteil haben sie denn nun?

Klingler: In den Faszien finden sich sehr viele Rezeptoren mit Verbindungen zu sogenannten wide dynamic range Neuronen im Rückenmark. Dadurch können verschiedenste Reize registriert werden, zum Beispiel auf Druck oder Vibrationen und bei jeder Bewegung. Sie leiten aber auch Schmerzsignale ins Gehirn, wenn in dem feinen Netzwerk des Fasziengewebes etwas nicht stimmt. Im unteren Rücken liegt zum Beispiel eine große Bindegewebsschicht zwischen Muskeln und Haut, die Lumbal-Faszie. Eine kleine Entzündung in diesem Bereich kann Schmerzen auslösen. Problematisch ist das vor allem, weil sich die Verschaltung der beteiligten Nerven sehr schnell umsortiert. Als Ergebnis wird die Stelle schmerzempfindlicher, bis es irgendwann ohne jede Ursache weh tut. Ein so genanntes Schmerzgedächtnis ist entstanden.

Was kann im Fasziengewebe nicht stimmen? Physiotherapeuten sprechen häufig von Verklebungen. Was passiert dabei?

Klingler: Wir Faszienforscher stecken bei dieser Frage noch mitten im Lernprozess. Was wir beobachten können ist Folgendes: Bewegung bewirkt einen Zug auf die Kollagenfasern in den Faszien. Gesteuert über den Wassergehalt im Gewebe richten sie sich aus, und es bilden sich schwache Verbindungen – über Wasserstoffbrückenbindungen – zwischen Strängen, die eng beieinander liegen. So entstehen geordnete, aber sehr flexible Netze. Das Bindegewebe und die darunter liegenden Muskeln können geschmeidig gleiten. Fehlt Bewegung, wächst ein Wirrwarr unterschiedlich ausgerichteter Bindegewebsfasern. Das schränkt die Bewegungsfreiheit ein. Ist zum Beispiel ein Bein einige Zeit eingegipst, lässt sich diese Unordnung im Fasziengewebe nachweisen.

Wie entstehen daraus Schmerzen?

Klingler: In verklebten Faszien können bei alltäglichen Bewegungen feinste Risse entstehen. Winzige Verletzungen, auf die Schmerzsensoren anspringen. Da Faszien und Muskeln eng miteinander verwoben sind, kann das vermutlich auch in den Muskeln zu Verspannungen und Schmerzen führen.

Lassen sich solche Verfilzungen wieder lösen?

Klingler: Ja, zumindest sehr oft. Dabei gilt: Je früher, desto besser und die Faszientherapie kommt ins Spiel. Sie basiert auf langsamen, schiebenden Bewegungen, die dem Bindegewebe offenbar besonders gut tun. Allmählich beginnen wir auf molekularer Ebene zu verstehen, wie das funktioniert. Es hängt unter anderem mit den schon genannten Wasserstoffbrückenbindungen zusammen. Eine Training auf einer Faszienrolle setzt außerdem auch beim Schmerzgedächtnis an: Das Rollen tut weh. Aber danach lässt der Schmerz nach, weil die Tiefenbewegung die Schmerzweiterleitung zum Gehirn unterdrückt. Auf der bewussten Ebene macht der Patient dadurch die Erfahrung, dass sich Schmerz auch wieder bessern kann.

Noch besser ist es natürlich, erst gar keine Rückenschmerzen zu bekommen. Was raten Sie? Wie beugt man am besten vor?

Klingler: Wenn einem Bewegung fehlt, zählt erst einmal jeder zusätzliche Schritt. Radeln, tanzen, Gartenarbeit: Alles ist ein Gewinn. Aber es gibt auch viele Leute, die sind sportlich und fit. Trotzdem können sie viel mehr für ihren Rücken tun, indem sie Abwechslung in ihre oft eingefahrenen Bewegungsabläufe bringen.
Letztendlich absolvieren wir im Alltag aber auch beim routinierten Freizeitsport doch immer wieder die gleichen Bewegungsabläufe. Dabei fehlen ungewöhnliche Bewegungen wie recken, strecken, mit beiden Beinen hüpfen … . Kinder sind da eine gute Inspirationsquelle. Zum Beispiel wie sie sich am Klettergerüst am Spielplatz mit den Armen von Sprosse zu Sprosse hangeln. Man sollte da auch als Erwachsener viel mehr ausprobieren. Das hält unter anderem die Faszien geschmeidig und kann helfen, Schmerzen zu vermeiden.

Wann seit Ihr das letzte Mal gehüpft?

Fazit: Für Wissenschaftler ist Muskeltraining keineswegs out und Faszientraining nicht allein seligmachend. Es bietet eine sinnvolle Ergänzung.

Muskeln galten lange als spannender

Die neuen Erkenntnisse über Faszien tragen ihren Teil zu vielen Forschungsthemen bei – unter anderem zum Verständnis von Schmerzentstehung. Gerade auf diesem Gebiet gibt es weiterhin viel zu tun. Der Hype um die Faszien erklärt sich teilweise daraus, dass dem Bindegewebe lange Zeit von Forscherseite wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Muskeln, Nerven galten über viele Jahrzehnte als deutlich spannender als die weißen Faserbündel, die Organe und Muskeln umschließen und durchziehen. Bindegewebe eben. Wenn wir Fleisch essen schneiden wir das sehnige Zeug ja auch großzügig weg.

„In vielen alten chirurgischen Lehrbüchern“, berichtet Faszienexperte Klingler, „ist das Bindegewebe detailliert beschrieben. Es galt zum Beispiel vor 100 Jahren noch als Leitbahnsystem für Infektionen.“ Mit der Entdeckung der Antibiotika war es dann nicht mehr so wichtig, sich mit dem Bindegewebe zu beschäftigen. Es galt als eher belangloses Füllmaterial.

Faszien halten unseren Körper zusammen

Erst seit wenigen Jahren rücken die Faszien wieder in den Fokus der Forschung. Faszien können sich, ähnlich wie Muskeln, zusammenziehen und sind für unsere Bewegungsfähigkeit sehr wichtig. Sie fungieren als Sinnesorgan. Neben ihrer Rolle bei der Schmerzentstehung sind sie wesentlich an unserer Körperwahrnehmung beteiligt: Wie wir uns im Raum bewegen, ob wir etwa gerade eine Hand nahe an den Körper führen oder ein Bein weit von uns strecken, das erfassen wir über Sinneszellen in den Faszien – ohne dass wir dafür in den Spiegel sehen müssen.

Nicht zuletzt bilden Faszien eine Art inneren Anzug, der den ganzen Körper elastisch zusammenhält, ihm Form und Kontur verleiht: In einem dreidimensionalem Netzwerk durchzieht das faserige Kollagengewebe den Leib in jede denkbare Richtung, bildet Sehnen und Bänder, ummantelt Muskeln, Organe, Gelenke und sogar einzelne Blutgefäße und Nervenstränge. Welche Bindegewebsstrukturen Wissenschaftler genau unter dem Begriff Faszien zusammenfassen, wird momentan neu bewertet.
Gesunde Faszien passen sich an die jeweiligen Anforderungen an: An einigen Stellen bilden Faszien ein Geflecht, das zart ist wie Spinnweben, an anderen – etwa am untern Rücken – verlaufen die Faszien in dichten, streng geordneten Schichten.

Diese Beiträge auf unserem Blog helfen, Schmerzen zu lindern oder vorzubeugen:

5 schnelle Entspannungsübungen – jederzeit und überall machbar

Plank Challenge – eine Übung stärkt den kompletten Rumpf

 

Über uns Alexandra von Knobloch

Journalistin: Gesundheit, Wissenschaft, Medizin. Dozentin Print/Online. Innovationstrainerin mit Design Thinking. Schreibt privat auf: http://healthandthecity.de über Gesundheit fürs digitalisierte Leben.

4 Kommentare

  1. Sehr informatives Interview, vielen Dank. Ich habe aktuell vor allem gute Erfahrungen mit der Osteopathie gemacht. Wenn Beschwerden im Nacken oder Rücken chronisch werden – immer auch an die Zähne denken. Kleinste Veränderungen (falscher Biss, fehlende Zähne) können massive Auswirkungen auf den gesamten Bewegungsapparat haben.

    Und – prima Blog!
    Gruß Klaus
    Dipl-SpoWi, Journalist

    • Alexandra von Knobloch

      Hallo Klaus, mit Osteopathie kann man auch an den Faszien arbeiten. Es gibt Leute, die vermuten, dass die Faszienforschung die Wirkung einiger Therapien erklären kann, die man bislang nicht kannte.

    • Genau: massive Auswirkungen auf das gesamte Sytem… deshalb ist es auch wichtig, bei lokalen Symptomen den gesamten Körper zu betrachten. Über die Faszien lassen sich dabei wunderbar Dysbalancen ausgleichen, wie wir das beim Rolfing seit vielen Jahren tun.

  2. Gerti Fluhr-Meyer

    Super-Interview, das mir sehr weiter geholfen hat, die Wirkungen von Faszientraining zu verstehen. Ich mache übrigens, was die Selbstbehandlung Schmerzen im unteren Rücken angeht, sehr gute Erfahrungen mit Cantienica, das ist eine Methode für Körperform und Haltung. Keine Ahnung, ob da auch die Faszien eine Rolle spielen – aber es kommt mir so vor.

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