Weihnachten kann kommen. Und eine große Portion Entspannung bitte auch! Es ist meine eigene kleine Tradition, dass ich mir jedes Jahr vornehme, schon mindestens eine Woche vor Weihnachten „runterzufahren“. Wenn ich mir das im Hochsommer ausmale, hüpfe ich in meiner Vorstellung befreit und ungestresst wie eine Weihnachtselfe durch die Wohnung, ich sitze mit den Kindern um den Adventskranz und singe Weihnachtslieder, schreibe Weihnachtskarten und verpacke die 234 Sorten Plätzchen, die ich noch gebacken habe, liebevoll in kleine Tütchen.
Ach ja. Man wird ja wohl noch träumen dürfen! Immerhin habe ich es geschafft, in den letzten zehn Tagen vor Weihnachten keine schlimme Deadline zu haben, das ist doch schon mal was. Stressig war es trotzdem, weshalb ich nur eine Sorte Plätzchen gebacken, das Weihnachtslieder-Singen Rolf Zuckowski überlassen und keine einzige Karte geschrieben habe. Ausgewählte Freunde dürfen sich aber über den alljährlichen – auch das schon eine ganz eigene Tradition – Weihnachtsgruß per E-Mail von mir freuen.
Alles runterfahren – vor allem die Erwartungen
Aber es ist gar nicht so wichtig, das Arbeitspensum runterzufahren. Viel wichtiger ist, die Erwartungen an Weihnachten auf null runter zu regeln. Das ist mir früher nicht gelungen und Weihnachten war natürlich eine Katastrophe. Vielleicht muss das zwischen 18 und 26 auch so sein, ich weiß es nicht. Oder war nur ich gefangen in diesem miesen Mix aus „Mach nicht so ein Gesicht“, „Sitz hier nicht rum, falte lieber diese Servietten“, „Dieses Jahr bist du aber netter zu Tante XY“ und „Hast du dich schon bei Oma bedankt“? Dabei war doch alles, was ich wollte, meine Ruhe.
Was ich bekam war Familienkrach, und wie ich in der Süddeutschen Zeitung gelesen habe, geht das vielen Menschen so. An Weihnachten sei alles so emotional besetzt, sagt der Psychologe Wolfgang Hantel-Quitmann da im Interview. Kommt dann noch Perfektionismus dazu und erste Leerlauf nach den mörderstressigen Tagen vor Weihnachten, ist doch klar, das alles eskaliert. Er sagt:
Weihnachten muss aber nicht perfekt sein, sondern nur gut genug.
Hantel-Quitmann sagt noch viele schlaue Dinge in diesem Interview, aber das ist für mich der wichtigste Satz. Ein perfektes Weihnachten wird es sowieso nicht geben, mir reicht es mittlerweile, wenn ich genug Ruhe bekomme, die Familie dazwischen wohl dosiert und mich nicht mit meiner Mutter streite. Vor allem mit letzterem Faktor steht und fällt alles.
Nein sagen – an Weihnachten schwer wie nie
Im Prinzip geht es auch an Weihnachten um nichts anderes als Abgrenzung. Darum, sich das Leben so einzurichten, dass es einem damit gut geht. Nicht darum, es den anderen ständig Recht zu machen. Doch selbst wenn einem das das ganze Jahr über gut gelingt, kaum brennen die Kerzen am Baum, ist in dieser Hinsicht der Ofen aus. Und man sieht spätestens ab dem 1. Feiertag in vielen Familien viele hübsche kleine und größere Bömbchen explodieren. Auch der Psychologe sagt: Man kann es gar nicht allen Recht machen. Aber am einfachsten noch sich selber. Wer es auch an Weihnachten schafft, „Nein“ zu sagen, ist echt ein Großmeister der Selbstfürsorge. Was nicht heißt, gleich einen ganz krassen Schnitt zu machen und Weihnachten gar nicht zu feiern, wie die PR-Beraterin Melanie-Jasmin Jeske: Kein Baum, keine Geschenke, nichts.
Wie sehr diese übertriebene Erwartungshaltung an Weihnachten auch damit zu tun hat, wie wir unsere Kindheit abspeichern, ist mir vor ein paar Wochen klar geworden. Weihnachten früher – das ist in meiner Erinnerung ein unglaublich kitschiger Mix aus wochenlanger Vorfreude (der Advent schien ein ganzes Jahr zu dauern!), ellenlangen Wunschzetteln, Plätzchenduft, dem Rascheln von Geschenkpapier und vor allem Omas Christbaum! Der war relativ klein und aus Plastik, aber der Schmuck! Ein Meer aus glitzernden Kugeln, kleinen Vögeln, silbrig glänzenden Fischen, winzigen Glöckchen… Meine Erinnerung hat aus dem alljährlichen Baumschmücken mit Oma einen schön schmalzigen 50er-Jahre Heimatfilm gemacht.
Meine Erinnerungen – und der Realitäts-Check
Bis ich mir Ende November ein Herz fasste und meine Oma fragte, ob ich ein paar Kugeln abhaben könnte, für meinen Baum. Monatelang hatte ich es schon vor mir gesehen, all die glitzernde Pracht in meiner Wohnung. Meine Oma, mittlerweile 86 Jahre alt und immer noch fit wie nix, war begeistert und kramte ihren Weihnachtsschmuck hervor. Und das Kugel-Meer aus meiner Erinnerung schmolz in der Realität auf vier Pappschachteln zusammen. Vieles der glitzernden Pracht war längst zersprungen, bei anderen die Farbe verblichen oder abgeplatzt, manches schien es nie gegeben zu haben, meinte zumindest Oma: „Kleine Vögel? Nein, sowas hatten wir bestimmt nicht.“
Wir haben dann eine kleine Auswahl der Glitzer-Reste verpackt und diese Einzelstücke hängen jetzt an meinem Baum. Man sieht ihnen an, dass sie schon einige Bäume haben kommen und gehen sehen. An zweien klebt sogar noch etwas Wachs, von den echten Kerzen, die meine Großeltern ganz früher, vor meiner Geburt, an ihrem Baum hatten.
Es ist nicht der perfekte Baumschmuck, den ich mir vorgestellt hatte. Es ist nicht so wie in meiner Kindheit. Wenn es überhaupt jemals so war. Meine Erwartungen, meine Erinnerungen – nicht so wichtig. Aber die fünf, sechs Kugeln, die da an meinem Baum hängen sind für mich etwas besonderes.